Die Bundestagsparteien und das Bundesverfassungsgericht – ein sensibles Spannungsverhältnis, wie sich in dieser Woche erneut bei der Verhandlung über die Chaoswahl im Land Berlin gezeigt hat. Nicht nur, weil die höchsten deutschen Richter den Abgeordneten immer mal wieder ins Handwerk pfuschen, so kürzlich bei der Entscheidung, ob das Heizungsgesetz noch vor der politischen Sommerpause vom Parlament verabschiedet werden darf. Immer stärker in die Kritik gerät auch die erhebliche Dauer von politischen Verfahren vor den Verfassungsgerichten des Bundes – und auch der Länder.
Fast zwei Jahre sind seit der Bundestagswahl im September 2021 verstrichen, ehe sich das Bundesverfassungsgericht mit der Pannenwahl befaßt hat. In der mündlichen Verhandlung ging es um eine Teilwiederholung in fünf Wahlbezirken, die der Wahlprüfungsausschuß des Bundestages mit Ampel-Mehrheit beschlossen hatte. Zunächst hatte nur die AfD eine Beschwerde angekündigt, die die komplette Wiederholung der Wahl anstrebt.
Die Union wollte der AfD nicht das Feld überlassen und erhob ihrerseits Beschwerde. Die Wahl solle in der Hälfte der insgesamt zwölf Berliner Bundestagswahlkreise wiederholt werden. Wann das höchste deutsche Gericht über die Beschwerden entscheidet, ist offen. Berlins Landeswahlleiter Stephan Bröchler rechnet mit einem Termin im Herbst. Dann bleiben maximal 60 Tage bis zur Neuwahl, teilweise oder komplett. Die Hälfte der Legislaturperiode wird dann längst vorüber sein.
Überlange Verfahren sind Usus in Bund und Ländern
Wird hier auf Zeit gespielt? Läuft die Rechtswegegarantie des Grundgesetzes ins Leere durch eine Verschleppung brisanter Verfahren aus parteipolitischen Motiven? Diesen Eindruck könnte man gewinnen, wenn man die Übersicht der AfD-Bundestagsfraktion über unerledigte Verfahren betrachtet. Es sind insgesamt 14, zwei Rechtsstreitigkeiten gehen gar auf das Jahr 2019 zurück.
Ende 2021 mußte die AfD erleben, daß die Mehrheit ihre drei benannten Abgeordneten für die Vorsitze im Innen-, Gesundheits- und im Ausschuß für Entwicklungszusammenarbeit durchfallen ließ. Die drei Posten stünden der AfD zwar zu, betonten die Richter im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, lehnten aber eine vorläufige Einsetzung von Ausschußvorsitzenden der AfD ab. Auf eine Entscheidung in der Sache wartet die AfD seit Juni 2022.
Der Justitiar der Fraktion, Stephan Brandner, erhebt schwere Vorwürfe gegen das höchste deutsche Gericht. „Das Bundesverfassungsgericht ignoriert und verschleppt unsere Verfahren seit teilweise mehr als drei Jahren. Sie werden liegengelassen, es passiert schlicht und einfach nichts. Daß die politische Einflußnahme der Mehrheit auf das Bundesverfassungsgericht vorhanden ist, weiß jeder, der die Auswahl der Richter kennt.“ Daß das Bundesverfassungsgericht selbst Politik mache, sei einem Rechtsstaat alles andere als würdig und lasse ihn nachdenklich zurück, betonte Brandner im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT.
Was ist angemessen für das Karlsruher Gericht?
Überlange Verfahren gibt es nicht nur im Bund, wie ein Blick auf die sächsische Justiz zeigt. Rückblick. Der AfD-Politiker Arvid Samtleben war vor der Landtagswahl 2014 gegen seinen Willen wieder von der Landesliste gestrichen worden. Die frühere AfD-Chefin Frauke Petry soll federführend gewesen sein. Der Landeswahlausschuß erhob keine Einwände und winkte die AfD-Liste durch. Der Sächsische Verfassungsgerichtshof aber rügte den Ausschuß, stellte einen Verstoß gegen das Wahlgesetz und das Gebot der innerparteilichen Demokratie fest. Die Liste hätte in seiner ursprünglichen Fassung zugelassen werden müssen.
Samtleben, der Beinahe-Abgeordnete, erhob eine Wahlprüfungsbeschwerde, über die erst drei Jahre und siebeneinhalb Monate nach der Landtagswahl entschieden wurde. Das oberste sächsische Gericht sprach zwar von einem „Wahlfehler“, wollte Samtleben aber auch nicht nachträglich eines der AfD-Landtagsmandate zugestehen. Sechzehn Monate später, am 1. September 2019, wurde der neue Landtag gewählt. Inzwischen wird der Ruf nach einer Neuordnung von Wahlprüfungsverfahren lauter.
Das Grundgesetz legt fest, daß die Wahlprüfung zuerst Sache des Bundestages ist. SPD-Fraktionsjustitiar Johannes Fechner und Parlamentsgeschäftsführer Patrick Schnieder (CDU/CSU) denken daran, dem Wahlprüfungsausschuß die Zuständigkeit für die Prüfung von Einsprüchen zu entziehen und allein dem Bundesverfassungsgericht zu übertragen. Einstufigkeit statt Zweistufigkeit. So ließe sich eine Politisierung der Verfahren vermeiden und wertvolle Zeit sparen. Ob diese Überlegung die Richter zugleich sensibilisiert für Organstreitverfahren von Fraktionen, läßt sich derzeit nicht abschätzen. Jedenfalls ist der „verfassungsrechtlich garantierte Rechtsschutz nur dann wirksam, wenn er innerhalb angemessener Zeit gewährt wird“, hieß es zuletzt 2018 in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über eine Verzögerungsbeschwerde. Was aber ist angemessen?